Probleme empirischer Kulturforschung

Die Interkulturalitätsforschung hat in den letzten Jahrzehnten stark an Bedeutung gewonnen. Nicht nur Ethnologen, auch Linguisten, Psychologen, Soziologen und Managementforscher beschreiben und vergleichen Kulturen. Obwohl die interkulturelle Kommunikation inzwischen häufig als eigenständige akademische Disziplin mit einem vereinenden Paradigma gesehen wird, besteht über die anzuwendenden Forschungsmethoden noch immer Dissens.

Um den Dialog zwischen Interkulturalitätsforschern unterschiedlicher Mutterdisziplinen zu fördern, veranstaltete die von der Hansen-Stiftung finanzierte Forschungsstelle Grundlagen Kulturwissenschaft im Februar 2009 eine interdisziplinäre Tagung an der Universität Passau. Fachvertreter der Disziplinen interkulturelle Kommunikation, internationale Umfrageforschung, interkulturelle Bildung, Soziologie, Psychologie, Amerikanistik, Geographie, Südostasienkunde und Deutsch als Fremdsprache diskutierten über die Problematik kulturwissenschaftlicher Pauschalurteile und präsentierten unterschiedliche Methoden der Datenerhebung. Der vorliegende Sonderband dokumentiert die Ergebnisse der Passauer Tagung in Ausschnitten.

Zunächst stellt sich die Frage, wie stark Kulturbeschreibungen verallgemeinern dürfen oder müssen. Da Aussagen über Kollektive nicht den Einzelnen ins Visier nehmen, sondern die Gruppe, können sie nur in Form von Verallgemeinerungen und Pauschalurteilen erfolgen. Wann aber sind Verallgemeinerungen angemessen und wann fallen sie zu pauschal aus? Wenn sich interkulturelle Ratgeber deutschen Kulturstandards, Kommunikationsgewohnheiten oder Verhaltenskonventionen widmen, genügt es dann, wenn diese Beschreibungen auf die Mehrheit der Deutschen zutreffen oder müssen sie auch Minderheiten einbeziehen? Wann dürfen Segmente ausgeblendet werden und wann sind gerade sie für eine Nationalkultur typisch? Diesen grundlegenden Fragen widmen sich die ersten drei Artikel des vorliegenden Bandes.

Klaus P. Hansen betont in seinem Beitrag über die „Problematik des Pauschalurteils“, dass sich Verallgemeinerungen über ein Kollektiv nur auf die partiellen Gemeinsamkeiten dieser Gruppe, nicht aber auf Individuen beziehen dürfen. Der Kulturtheoretiker erinnert an die menschliche Multikollektivität, plädiert für eine dichte Zuschreibung beobachteter Merkmale zu einzelnen Gruppenmitgliedschaften und entwirft eine Typologie unterschiedlicher Kollektivformen. Nationen konzipiert er als Dachkollektive mit homogenem Überbau und polykollektiver Basis. Kulturwissenschaftler müssen diese Ebenen sorgfältig unterscheiden, um zulässige Pauschalurteile fällen zu können.

In seinem Beitrag „Gefangen im Container – Kulturvergleiche und ihre räumliche Vorbestimmung am Beispiel des Filmes ‚Willkommen bei den Sch’tis‘“ demonstriert Jörg Scheffer die Bedeutung, aber auch die Probleme gängiger räumlicher Kategorisierungen in der kulturvergleichenden Forschung. Angesichts gewichtiger Kritikpunkte überlegt er, inwieweit Kulturvergleiche ohne Raum auskommen können oder diesen gerade zur Überwindung der Probleme benötigen. Scheffer zeigt zudem, dass der Nutzen und die Gültigkeit eines Kulturvergleichs stets kontextgebunden sind und plädiert für Kulturvergleiche mit variablem Raumbezug.

Rüdiger Korff beschreibt in seinem Beitrag „Interkulturalität oder Alltagsleben: Empirische Implikationen theoretischer Perspektiven“ den „cultural turn“ in den Sozialwissenschaften, in dessen Folge Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zunehmend aus einem kulturellen Blickwinkel analysiert werden. Er zeigt, wie eigene und fremde Kulturen in Beziehungen simuliert werden und übt Kritik an dem Essentialismus dichotomisierender Kulturmodelle aus der Trainingspraxis, die Kultur als Ware den Kundenwünschen entsprechend aufbereiten. Diesem Ansatz stellt Korff die kritische Untersuchung des Alltagslebens gegenüber, in der Praxis rekonstruiert und Simulation dekonstruiert wird.

Die Problematik der kulturwissenschaftlichen Pauschalisierung steht in engem Zusammenhang mit der Frage nach angemessenen Methoden empirischer Datenerhebung. Hier stehen sich zwei konträre Ansätze gegenüber, die sich mit unterschiedlichen Argumentationslinien verteidigen. Verfechter quantitativer Methoden entwickeln Hypothesen ex ante und überprüfen diese mit Hilfe standardisierter Instrumente, um angeblich objektive und replizierbare Ergebnisse zu erhalten. Befürworter qualitativer Ansätze dagegen glauben nicht, dass sich die Kulturforschung an naturwissenschaftlichen Vorgehensweisen orientieren kann. Die Anhänger des Qualitativen plädieren für den verstehenden Zugang, der sich den zu erforschenden Kollektiven und ihren Kulturen öffnet. Zugunsten tiefgehender Analysen wird auf die statistische Auswertung der Daten verzichtet. Obwohl die Grundprämissen beider Erkenntnistheorien lange unvereinbar erschienen, findet inzwischen eine Annäherung statt. Die letzten beiden Beiträge dieses Bandes geben einen Einblick in die aktuelle kulturwissenschaftliche Methodendiskussion.

Petia Genkova erstellt in ihrem Beitrag über den „Stichprobenzugang oder das Sampling-Problem bei Kulturvergleichenden psychologischen Untersuchungen“ eine Typologie unterschiedlicher Forschungsansätze in der Kulturen vergleichenden Psychologie sowie in der Kulturpsychologie, gibt einen Überblick über quantitative und qualitative Methoden des Faches und spricht deren methodische Probleme an. Vor diesem Hintergrund beschreibt Genkova die vielfältigen Schwierigkeiten, die sich bei der Konstruktion vergleichbarer und äquivalenter Stichproben ergeben und zeigt, wie sich der Verzerrungseffekt minimieren lässt.

In dem abschließenden Beitrag über „Übersetzungsprobleme in der interkulturellen Befragung“ zeigt Helene Haas, wie der Einfluss von Kultur auf Sprache, kulturspezifische Konzepte und unterschiedliche Sprachstrukturen die äquivalente Übersetzung von Fragebogenitems und Skalen erschweren. Haas beschreibt Techniken, die in großen Umfrageprojekten zum Einsatz kommen, um das Problem zu kontrollieren und überprüft deren Wirksamkeit mit einem Vergleich der deutschen und englischen Fragebögen der World Values Survey 2006. Da auch hier Verzerrungen durch Übersetzungsungenauigkeiten nachzuweisen sind fordert Haas eine kritische Rezeption empirischer Kulturstudien.

Der intensive Austausch zwischen Interkulturalitätsforschern unterschiedlicher Mutterdisziplinen auf der Passauer Tagung zeigte, dass die Suche nach einer gesicherten Methodik für das neue Fach interkulturelle Kommunikation noch lange nicht abgeschlossen ist. Bis dahin müssen ambitionierte Studien Anregungen aus unterschiedlichen Disziplinen aufnehmen und ihre Ergebnisse mit der Kombination mehrerer Messverfahren absichern.

PDF-Dokument
http://www.interculture-journal.com/download/issues/2009_10.pdf

Ce contenu a été publié dans Recherche interculturelle, avec comme mot(s)-clé(s) . Vous pouvez le mettre en favoris avec ce permalien.

Les commentaires sont fermés.